
Die Stimmung im Einzelhandel war schon einmal besser. Wenn da nicht die Retail Media wären, die wie ein Eldorado klingen und eine Win-Win-Situation für alle zu sein scheinen: für Einzelhändler, für Marken und für Verbraucher.
Während sich das stationäre Handelsgeschäft im Jahr 2022 mit einem leichten Umsatzplus im Vergleich zu 2020 und 2021 zurückkämpft, wächst der Online-Handel weiterhin deutlich stärker. Nach aktuellen Prognosen (Group M) wird der eCommerce im Jahr 2027 rund 25 % des weltweiten Einzelhandelsumsatzes ausmachen. Doch auch hier verlangsamt sich das Wachstum derzeit und selbst Branchenprimus Amazon musste kürzlich mit enttäuschenden Nachrichten aufwarten.
Doch nicht nur der Einzelhandel steht vor vielen Herausforderungen. Die Unternehmen der Konsumgüterindustrie (CPG) haben ähnlich turbulente Jahre hinter sich. Schon vor der Pandemie hatten sie zunehmend Schwierigkeiten, weiteres Wachstum zu erzielen.
Schwierige Bedingungen für Einzelhändler. Veränderte Bedürfnisse der Konsumgüterunternehmen.
Im Gegensatz zur Umsatzentwicklung im Online-Einzelhandel entwickeln sich die Werbedienstleistungen von Amazon gut und zeigen sich deutlich widerstandsfähiger gegenüber wirtschaftlichen Schwächen. Sascha Jansen, Chief Digital Officer der Omnicom Media Group, bescheinigt dem gesamten digitalen Werbemarkt trotz widriger Umstände ein robustes Wachstum im Jahr 2022. Retail Media, d.h. Marketing an Verbraucher am oder in der Nähe ihres Einkaufsortes, einschließlich Werbung in Geschäften und online, Sampling, Kundenkarten und Coupons oder Gutscheine, hat enorm an Bedeutung gewonnen.
Im Jahr 2021 machten die Einnahmen aus Einzelhandelsmedien 18 % der weltweiten digitalen Werbeeinnahmen und 11 % der gesamten weltweiten Werbeeinnahmen aus.
Eine aktuelle Studie des IAB Europe (Interactive Advertising Bureau Europe A.I.S.B.L.) zeigt, dass die Einnahmen aus dem Medieneinzelhandel in Europa von 9,7 Mrd. Euro im Jahr 2022 auf über 25 Mrd. Euro im Jahr 2026 steigen werden und damit die Ausgaben für das Fernsehen übertreffen. In den USA werden die Ausgaben für Retail Media voraussichtlich auf über 61 Mrd. $ ansteigen und fast 20 % der Ausgaben für digitale Werbung ausmachen (eMarketer Nov/22).
Retail Media ist der Wachstumsbereich Nummer eins im Werbegeschäft.
Bislang war das Thema eine Domäne der großen Online-Plattformen. Doch Retail Media ist kein wirklich neues Phänomen und nicht auf den eCommerce beschränkt. Einzelhändler haben ihren Lieferanten schon immer Zugang zu ihren Medien gewährt. Was sich in den letzten Jahren geändert hat, ist eine Kombination aus dem Fokus auf externes Marketing und technologischer Entwicklung. Immer mehr (physische) Einzelhändler entdecken hier margenstarke Geschäftsmöglichkeiten. Vor allem in Europa und im deutschen Lebensmitteleinzelhandel ist die Branche aufgewacht.
Die Branche hat das Marketingpotenzial ihrer Kunden und deren Loyalitätsdaten erkannt. Die REWE Group hat dies als eine der ersten erkannt und investiert weiter in entsprechende Technik und Bestände.
Die Schwarz-Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, die größte europäische Retail Media-Plattform zu schaffen. Die Übernahme des Berliner Datenspezialisten SO1, der sich auf personalisiertes Customer Targeting spezialisiert hat, und zweier erfahrener ehemaliger Amazon-Manager verdeutlicht die strategische Relevanz. Der wichtige Datenschatz liegt in Lidl Plus und Kaufland Card.
Es gibt Chancen für alle Marktteilnehmer.
Amazon hat derzeit einen signifikant hohen Marktanteil beim Verkauf von Retail Media, doch die Konkurrenz holt auf. Der weltgrößte Handelskonzern hat mit seiner Tochter Walmart Connect ein umfassendes Ökosystem für Retail Media geschaffen und kann im Vergleich zu Amazon mit Datenmaterial zum stationären Geschäft glänzen. Auch Target, Kroger, Instacart und eine ganze Reihe weiterer Einzelhändler verfügen mittlerweile über eigene Retail Media Networks (RMN). Das Gleiche gilt für Großbritannien und Unternehmen wie Tesco, Ocado, Sainsbury oder Boots. Und wie sieht es in der APAC-Region aus? Die Trends sind ähnlich, obwohl laut eMarketer die Ausgaben hier bereits unverhältnismäßig höher sind (14,5 % in den USA) und 40,7 % der digitalen Werbung in China im Jahr 2022 auf Retail Media Networks wie Alibaba und JD.com entfallen.
Auf den Horizont Digital Marketing Days im Oktober wies Daniel Knapp, Chefökonom des IAB Europe, auf die vielen starken Einzelhandelsunternehmen in Europa hin, die gerade erst am Anfang stehen. Carrefour und Publicis Groupe haben ihre Kräfte gebündelt. Otto, MediaMarktSaturn, Obi, Douglas, MyToys oder Zalando beschäftigen sich intensiv mit Retail Media und heben ihre Aktivitäten auf ein neues Level.
Und in Deutschland hat sich im September die neue Retail Media Initiative (RMC) im Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) gegründet. Ihr Ansatz ist europaweit, denn viele Mitglieder sind nicht nur in Deutschland aktiv. Dort liegt der Fokus nun auf der Vernetzung, der Entwicklung einheitlicher Definitionen und Kennzahlen von Retail Media. Patricia Grundmann, die Vorsitzende der Initiative, sagt: "Retail Media ist viel mehr als digitale Bannerflächen. Wir wollen ganzheitlicher und mit Blick auf die gesamte Customer Journey denken."
Es herrscht eine optimistische Stimmung. Auch aus der jüngsten Umfrage unter deutschen Mediaagenturen (Foma Trendmonitor) ging Retail Media als klarer Sieger hervor. Prognostiziertes Umsatzwachstum für 2023: 27 Prozent! Erwartet wird ein deutlicher Einstieg des FMCG-Sektors.
Die Werbelandschaft verändert sich.
Ein Grund für den Boom ist sicherlich die Fülle an wertvollen First-Party-Daten, die die Netzwerke sammeln und den Werbetreibenden anbieten können.
First-Party-Daten ermöglichen ein effizienteres Targeting und können für eine genauere Messung des Werbe-ROI verwendet werden, so dass Marken ihre Kampagnen optimieren und die Leistung verbessern können. Darüber hinaus kann mit First-Party-Daten die Rendite der Werbeausgaben (ROAS) verfolgt werden, so dass Marken die Bedürfnisse der Kunden in jeder Phase des Kaufprozesses erkennen und erfüllen können. Je nach Art und Umfang der gesammelten Informationen ergeben sich wertvolle Einblicke in aussagekräftige demografische und biografische Daten sowie Informationen zum Kaufverhalten, sowohl online als auch im Geschäft.
Mit ihrer Fähigkeit, den Umsatz zu steigern, Werbeeinnahmen für Einzelhändler zu generieren und es Werbetreibenden aus Industrie und Dienstleistung zu ermöglichen, Kunden mit einer hohen Kaufbereitschaft anzusprechen, bietet Retail Media eine klare kommerzielle Chance.
Für die Markenhersteller führt diese erfolgreiche Kombination zu einigen dramatischen Verschiebungen in den CPG-Budgets. Genauso wie sich die Einzelhandelsumsätze von den High Street Shops zu den Online-Marktplätzen verlagern, steigt auch das Interesse am Aufbau digitaler Möglichkeiten für das Shopper-Marketing. Die Grenzen zwischen Shopper- und Markenmarketing verschwimmen. In einigen Fällen werden neue Budgets geschaffen.
Die Bedeutung der Verknüpfung von Touchpoints und Contextual Targeting.
Retail Media Netzwerke ermöglichen es Marken, an einem idealen Ort und zu einem idealen Zeitpunkt zu werben - am Point of Sale. Sie finden die Verbraucher im Einkaufsmodus, in der Regel nur zwei Klicks von der Konversion entfernt.
Marken können hochspezifische, zielgerichtete Kampagnen rund um echte Kunden formulieren und sie über eine Vielzahl von Touchpoints ansprechen, vom Sofa bis zum Geschäft. Es geht um Kaufmotivation, eine Intensivierung der Markenbeziehung und im Idealfall um eine engere Bindung an den jeweiligen Händler.
Sabine Jünger, Head of Otto Retail Media, betont die Relevanz der gesamten Customer Journey und die damit verbundenen Möglichkeiten für Branding-Kampagnen. Das sagte sie kürzlich in einem Interview mit Horizont Media: "Retail Media kann Full-Funnel gehen." Und Caroline Schmitt, CMO bei Douglas, lässt es so klingen: "Digital first ist unsere Strategie, aber das bedeutet nicht, dass wir auf klassische Medienkanäle verzichten." TV und Print sind unverzichtbar, und das Douglas-Magazin ist eine Herzensangelegenheit für sie.
Erste Schritte mit Bedacht gehen.
Marc Fischli ist ein ausgewiesener Experte für Retail Media sowie digitale und eCommerce-Werbung. Zuletzt Chief Client Officer beim britischen Customer-Data-Science-Unternehmen Dunnhumby, wechselt er als Executive Managing Director EMEA zu Criteo. Bislang hat er stets betont, dass er für die überwiegend physischen Einzelhändler in Europa sogar einige Vorteile gegenüber der rein digitalen Konkurrenz sieht. Durch einen breiteren Ansatz bieten Einzelhändler mehr Möglichkeiten für Werbetreibende aus anderen Branchen, deren Kunden nicht in dem jeweiligen Geschäft einkaufen.
Thomas Schwetje, Head of Marketing & Digital Services bei Coop (Schweiz), plädiert dafür, Retail Media durchaus kritisch zu betrachten und sich der Unterschiede zwischen Handel und Marktplatz bewusst zu sein. Aus seiner Sicht lohnt es sich nicht, nur auf Online zu setzen, weil dort in vielen Fällen einfach zu wenig Traffic vorhanden ist. Bei Coop liegt der POS klar vor Print und Digital. Und die Coop-App spielt eine wichtige Rolle.
Neulinge im Bereich Retail Media sollten sich der Kosten, des Ressourcenaufwands und der Komplexität bewusst sein. Sie sollten Partnerschaften mit Drittanbietern, Marktplätzen, Mediaagenturen und Technologiepartnern prüfen.
Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass es sich hier um einen noch unreifen Medienmarkt handelt, dessen Dynamik sich weiter entwickeln wird. Es gibt nur wenige Daten und Erkenntnisse darüber, welche Strategien bei Investitionen in diesen Markt am effektivsten sind. Es ist eine klare Strategie erforderlich. Es ist wichtig, die richtigen Ziele und Maßnahmen zu definieren und die richtigen KPIs zu überwachen.
Alle marken- und produktbezogenen Informationen müssen optimiert und koordiniert werden. Richtig gemacht, kann dies das Kundenerlebnis durch mehr Wert, Komfort und Inspiration erheblich verbessern.
Über Andreas Schambeck
Andreas Schambeck ist erfahren in der Welt des Branding, der Marketingkommunikation und insbesondere der gesamten Lieferkette für Verpackungsgrafik. Als Teil des Business Development Teams bringt er über 30 Jahre Erfahrung aus verschiedenen Branchen und Zielmärkten mit. In erster Linie unterstützt er Markeninhaber und Einzelhandelskunden dabei, ihr Marketing-Ökosystem bestmöglich zu organisieren, um noch agiler, effizienter und konsistenter zu sein.